Die Lichter gehen an. Ein unbarmherziges Flimmern. Wie feine Nadeln frisst es sich selbst durch geschlossene Lider und entfacht ein schmerzendes Schädelinferno. Kalt ist dieses Licht, beinahe steril, eine armselige Imitation, die der Idee von Licht kaum zum Spott gereicht. Zuckend kriecht es über die kahl grinsenden Wände wie ein Pilz seiner parasitären Lebensweise gemäß. Stück für Stück wird der Wirt von dem wuchernden Schmarotzer übernommen. Eine skurrile Symbiose, ohne Zweifel. Die kalten, weißen Wände gieren danach, sich in dem Licht zu baden, wenigstens kurzzeitig mehr zu sein als ihre bloße statische Daseinsberechtigung. Das Licht, das ewig eitle, braucht wie immer seine Bühne. Stumme Übereinkunft, Pakt ohne Handschlag.
So wird die illuminierte weiße Fläche zum Spielplatz der sich tummelnden Schatten, Leinwand der Laienschauspieler, deren Namen in keinem Drehbuch erwähnt werden.
Aber es ist kein großes Kino, keine überfüllten Säle, in denen die Besucher den romantischen Szenen Rührungstränen zollen und fast zufällig nach der Hand des Partners tasten oder spannungssprühende Spezialeffektfeuerwerke mit klaffenden Mündern und aufgerissenen Augen ungläubig begaffen. Es sind auch keine von den geschätzten Unterhaltungsjuwelen, die sich oft in die abgelegenen Hinterhöfe halb verfallender Denkmal-schutzbauten ducken und mit billiger aber gemütlicher Schrebergartenbeleuchtung spontane Streuner einladen, an dem Insidervergnügen teilzuhaben.
Es sind verkrüppelte Schattenspiele ohne durchdachte Inszenierung, künstlerisches Talent, ohne jeden ästhetischen Reiz.
Die Handlung folgt immer dem gleichen Muster: Ein selbsternannter Diktator betritt die Szenerie und lässt seine eigene Armseligkeit an einem Gefangenen aus. Sie leben nach der Uhr, beginnen stets pünktlich ihren Kontrollgang, heucheln jeden Tag neu ihre guten Absichten vor und verleihen sich selbstgefällig das Prädikat eines Samariters, wenn sie den Gefangenen ihren Grundfraß voll falscher Güte vorsetzen. Wohl wissend, dass sie sich nicht wehren können, ja, dass sie kurzzeitig auf die Diktatoren angewiesen sind, sprechen sie den Gefangenen jegliche Selbstständigkeit ab. Meist sind die Gefangenen zu kraftlos, um aufzubegehren und sie müssen hilflos mit ansehen wie sie zu entmündigten Marionetten reduziert werden. Solange sie den Anweisungen der Puppenspieldiktatoren folgen, werden sie wie zu erziehende Welpen mit einem Brocken Freundlichkeit belohnt. Flackert aber ein Funken Widerstand auf, wird dieser erbarmungslos erstickt, man wird in die Ecke gelegt und fortwährend nur als lästiger Schandfleck wahrgenommen, dessen man sich nicht schnell genug entledigen kann.
Sie tragen Uniformen die Diktatoren, doch Schatten sprechen nicht in Farben und Abzeichen sondern in Gebärden, die das Auge nur zu hören wissen muss. Wie herrisches Gebell fuchteln ihre Schatten, lieblose, freudlose, klanglose Stimmen. Ein krächzendes Getöse, das jede Form von Akustik vergewaltigt.
In diesem obskuren Schattenkino gibt es viele Leinwände, die die unterschiedlichsten Akteure präsentieren. Meist sind es die Diktatoren, die ihre Bühnen wechseln, um möglichst auf allen gleich-zeitig zu stolzieren.
Manchmal sehen die Wände auch neue Spieler, die mit ihren Gastauftritten den Gefangenen die Hoffnung auf Besserung am Leben zu erhalten, ihre Einsamkeit erträglich zu gestalten, Traurigkeit zu lindern, die Schmerzen einen Augenblick lang vergessen zu machen. Sie bringen Leben in die triste Spirale des erniedrigenden Alltagstrotts. Plötzlich hört man die Gefangenen atmen, sieht ihre Schatten freimütig tanzen nach einer wiedergefundenen Musik. Plötzlich erscheinen Licht und Wände weniger kalt.
So variiert die Besetzung. Manche Charaktere haben einen hohen Wiedererkennungsgrad, andere geraten nach ihrem Debüt wieder in Vergessenheit. Viele Kurzauftritte mit plötzlichem Aufgang und noch schnellerem Abgang. Nur die Gefangenen tanzen nicht auf verschiedenen Bühnen. Sie sind festgeklebt an der kalten Wand ihrer eigenen Doku-mentation, die doch nicht sie darstellen und auf die sie keinen Einfluss haben.
„Wir sind doch hier nur Statisten“ hallt ein schwaches Echo von den toten Wänden wider, leicht überhört und doch mit einer eigenen Kraft. Dann verstummt der kurze Hauch einer Stimme wieder.
Keine Kamera hält diese Szenen für eine spätere Vorstellung vor Publikum fest. Exklusive Momentaufnahmen für den aufmerksamen Beobachter.
Und dann wird es Nacht im Krankenhaus. Die Lichter werden gelöscht. Endlich. Gnädige Dunkelheit.